Momentan nimmt Krumpfz einfach alles in den Mund. Besonders gern kaut er auf seiner ersten Zahnbürste herum, aber auch andere Gegenstände befühlt er eingehend mit Lippen und Zunge. Liegengelassene Zeitschriften zum Beispiel werden sofort an den Ecken eingespeichelt, aufgeweicht und aufgegessen. Auch die Erde, die eigentlich unserer großen Wohnzimmerpalme als Nährboden dient, landete zuletzt in einem kurzen, unbeobachteten Moment in Krumpfz’ Mund. Und nicht zuletzt hat der Kleine die Beschaffenheit von Gras und Blättern auf dem Spielplatz oral getestet.
Gleichzeitig sind Taschentücher-Packungen für Krumpfz – wie für viele Babys – gerade sehr spannend. Die knistern ja auch so schön! Zu Hause haben wir ihm deshalb immer mal wieder unter Aufsicht eine Packung Tempos zum Erkunden gegeben. Das Schlimmste, was er mit den Packungen bisher anstellen konnte, war das Anlutschen aller Tücher im Inneren. Das änderte sich allerdings am letzten Dienstag.
Ich hatte mich mit Lilo* verabredet, die ich aus dem Pekip-Kurs kenne und die genauso viel und weit mit dem Kinderwagen durch die Gegend schiebt wie ich. Lilo hatte vorgeschlagen, mit dem Bus ins nächstgelegene Dorf zu fahren und unsere Söhne von dort aus über ein weiteres Dorf zurück in unsere Heimatstadt zu schieben. Ich kannte die Strecke nicht und freute mich auf die Abwechslung in meiner morgendlichen Lauf-Routine.
Mit dem schlafenden Krumpfz im Kinderwagen stieg ich also pünktlich um halb zehn in den Bus ein, eine Station später stieg Lilo mit ihrem Sohn Tom** zu. Als wir im nächstgelegenen Dorf ausstiegen, schien die Sonne schon hell und warm vom Himmel. Sonnenbebrillt schoben wir los.
Kaum hatten wir den Ortsrand erreicht, wurde Krumpfz wach – und unterbrach Lilo und mein Gespräch zunehmend mit seinem Genörgel. Zunächst versuchte ich ihn mit seinen Stapelbechern zu beschäftigen, was jedoch gänzlich scheiterte. Lilo bot ihm daraufhin einen orangefarbenen Stoffaffen von Tom an, welcher Krumpfz zumindest kurz ablenkte. Als er aber auch von diesem abließ, schloss ich daraus, dass er Hunger haben musste – oder zumindest Durst. Also suchte ich mir ein schattiges Stück Wiese, breitete dort unsere alte Picknickdecke aus und stillte den Kleinen – allerdings nur kurz. Denn Krumpfz hatte entweder keinen richtigen Hunger oder fand das Gras neben ihm spannender als die ihm dargebotene Milchquelle.
Zurück im Kinderwagen zeigte er sich dementsprechend nur kurz zufrieden und begann bald wieder zu nörgeln. Ich versuchte es mit dem nächsten Trick und drehte Krumpfz auf den Bauch. So konnte er durch eine Öffnung im Himmel des Kinderwagens vor uns auf den Weg schauen. Als ihm das auch zu langweilig wurde, gab ich ihm die Packung Taschentücher, die ich gegen meinen Heuschnupfen dabei hatte. Sofort kehrte im Kinderwagen eine geschäftige Ruhe ein.
Lilo und ich nahmen unseren Gesprächsfaden wieder auf und schoben weiter. Inzwischen hatten wir das zweite Dorf passiert und liefen auf einem Feldweg zwischen Wiesen eine leichte Anhöhe hinauf. Einen Moment blieben wir stehen, um die Flut an noch blühenden und schon verblühten Blumen in uns aufzunehmen.
Als wir uns gerade wieder in Bewegung gesetzt hatten, fing Krumpfz erneut an zu quengeln. Etwas genervt hielt ich an, um ihn vom Bauch wieder auf den Rücken zu drehen. Dadurch wuchs Krumpfz’ Quengeln allerdings zu einem bitterlichen Weinen an. Gleichzeitig begann er plötzlich zu würgen und erbrach etwas Muttermilch. Ich dachte erst, dass er sich verschluckt haben müsse – bis Lilo fragte: „Sag mal, wo ist denn die Klebelasche von der Tempo-Packung?“ Und tatsächlich: Die Klebelasche war weg.
Wie eine Fieberwelle stiegen Panik und Angst in mir auf. Hatte Krumpfz die Klebelasche verschluckt? Das konnte doch nicht sein, er hatte sie vorher noch nie von der Packung abbekommen! Hektisch suchte ich den Kinderwagen ab – die Lasche blieb verschwunden.
Dafür begann Krumpfz, immer mehr zu würgen und zu schreien. Kurz versuchte ich, in seinen Mund zu fassen, aber das verschlimmerte Krumpfz‘ Weinen nur. Also nahm ich ihn auf den Arm und drückte ihn fest an mich, um ihn und mich zu beruhigen.
„Was mach ich jetzt?“, fragte ich Lilo. „Ruf’ deinen Mann an“, sagte sie, „und dann den Kinderarzt. Ich schiebe solange deinen Wagen mit.“ Also wählte ich – Krumpfz auf den Arm – hastig die Nummer von Krumpfz‘ Papa. „Du musst kommen und uns abholen! Wir müssen zum Kinderarzt, Krumpfz hat die Klebelasche einer Tempo-Packung verschluckt!“, erklärte ich ihm so schnell ich konnte. Er hörte mir zu und versprach, sich sofort auf den Weg zu machen.
Ich rief indes den Kinderarzt an. „Bekommt Ihr Sohn Luft?“, wollte der sofort wissen und als ich das nach einem erneuten, prüfenden Blick auf das inzwischen nur noch leicht wimmernde Baby auf meinem Arm bejahte, fuhr er fort: „Dann haben Sie genug Zeit, um in die Kinderklinik zu fahren. Die sind in solchen Fällen zuständig. Ich rufe dort schon mal an und sage bescheid, dass Sie kommen.“
Kaum hatte ich aufgelegt, meldete sich mein Mann nochmal, um vorzuschlagen, dass ich ja auch den Bus zum Kinderarzt nehmen könnte. Ich konnte ihm gerade noch erklären, dass das nun wirklich nicht ginge und wir ohnehin in die Kinderklinik müssten. Dann wurde mir Krumpfz auf meinem Arm zu schwer und ich bat Lilo, das Gespräch mit meinem Mann weiterzuführen. Ich legte den Kleinen zurück in den Kinderwagen und stellte die Lehne etwas aufrechter, als aus Krumpfz’ Mund plötzlich etwas hervorlugte. „Da!“, rief Lilo und geistesgegenwärtig zog ich die Klebelasche wieder zwischen seinen Lippen hervor.
„So ein Scheißding!“, rief ich und pfefferte die Lasche wütend und gleichzeitig erleichtert in die Wiese neben mir. „Er hat die Lasche gerade wieder ausgespuckt“, fasste Lilo das Geschehen erleichtert für meinen Mann am Handy zusammen.
Wir schoben unsere Kinderwägen in den Schatten der nächsten Bäume und hielten erst einmal inne. Krumpfz bekam etwas Wasser zu trinken – und Tom endlich wieder Aufmerksamkeit. Dann traten wir die letzten Kilometer nach Hause an, ich noch ganz eingenommen von der Angst um Krumpfz. Lilo und ich schworen uns, dass wir unseren Söhnen nie wieder etwas geben würden, wovon wir glaubten, dass „er das schon nicht aufbekommt“.
Als ich schließlich mit Krumpfz wieder zu Hause angekommen war, nahm ich den Kleinen noch einmal auf den Arm und drückte ihn fest an mich. Ich war unglaublich erleichtert. Und wütend auf mich selbst, weil ich so leichtfertig gewesen war. „Es tut mir leid, mein Schatz“, entschuldigte ich mich bei Krumpfz. Und dann gingen wir ins Wohnzimmer und spielten mit richtigem Spielzeug.
*Die in Wirklichkeit einen schöneren Namen trägt.
** Auch er heißt im echten Leben anders.