Einsam

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Ich weiß noch, wie mich Frau Eggebert* mitleidig anschaute, als sie mir an unserem Esstisch gegenübersaß – ich mit Krumpfz auf dem Arm, sie mit einem Glas Wasser und vielen Infoprospekten vor sich.

Frau Eggebert ist Familienbesucherin unserer Stadt und kam irgendwann im Oktober bei uns vorbei. Das ist Standard. Natürlich wollte sie mehr über mich wissen: „Wie lange wohnen Sie denn schon hier?“ „Fünf Jahre.“ „Ach, dann haben Sie sicher schon viele Kontakte geknüpft…“ „Naja, wir sind im Sportverein, sonst kennen wir hier aber niemanden.“ Da war er – der Satz, der Sorgenfalten in Frau Eggeberts Gesicht zeichnete. „Oh“, sagte sie nur, um dann schnell in den Prospekten nach Möglichkeiten zu suchen, wie ich als Mutter Kontakte zu anderen knüpfen könnte. „Als Mutter ist man ja doch oft einsam“, sagte sie, nachdem sie mir verschiedene Mütterzusammenkünfte aufgezählt hatte.

Mich verwirrte, dass Frau Eggebert mit mir sprach, als hätte ich ihr gerade von einem familiären Sterbefall berichtet. Und überhaupt: Einsamkeit – was sollte das sein? Ich hatte doch ständig Besuch – und zwar so oft, dass ich mich schon teilweise einen Monat im Voraus mit meinen Freunden verabredete. Ich fühlte mich wie die Sprechstundengehilfe eines renommierten Facharztes: Dr. Krumpfz wollten sie einfach alle sehen!

Doch dann wurde es November, die Besuche wurden seltener und es wurde jeden Tag etwas später hell und etwas früher dunkel. Und mit der Dunkelheit kam sie tatsächlich: die Einsamkeit. Während mein Mann und alle meine Freunde tagsüber arbeiten gingen, ihre Hobbys verfolgten, abends weggingen, war ich vor allem eins: Krumpfz’ Mama. Allein zog ich meine Runden durch die vom tiefhängenden Nebel niedergedrückte Stadt, durch kahlgemähte Felder und durch von feuchten Schatten durchwirkte Täler. Was mich am Laufen hielt: Krumpfz, der dicht an mich geschmiegt im Tuch schlief.

Und so kam es, dass ich Frau Eggebert irgendwann glaubte und beschloss, etwas gegen diese Einsamkeit zu tun. Also meldete ich mich nach dem Rückbildungskurs zu einem Kurs für Babymassage an und als der auslief – aus purer Langeweile und nicht aus Überzeugung – für einen Pekip-Kurs.

Anfangs gefiel mir der Pekip-Kurs tatsächlich gut. Krumpfz mochte das nackte Gestrampel im überheizten Raum und ich fand den Kennenlern-Smalltalk mit den anderen Müttern angenehmer als erwartet. Dabei hatte uns Savanna*, die Hebamme aus dem Babymassage-Kurs, vor dem Kontakt zu anderen Müttern gewarnt: „Die liebevollen Geier kreisen“, war ihr Mantra, das sie uns mit auf den Weg gab. Denn es sei schwer, sich gegen die gut gemeinten Ratschläge der anderen Mütter zu wehren und sich nicht verunsichern zu lassen.

Im Pekip-Kurs bekam ich allerdings zunächst nur Komplimente für mein Kind: Was für große blaue Augen Krumpfz habe! Wie ausgeglichen er sei! Und wie geduldig, obwohl er doch offensichtlich sehr müde sei! Auch die Kursleiterin fand nur lobende Worte für ihn. Ich war stolz auf mein Kind.

Dann aber gefiel es Krumpfz plötzlich nicht mehr bei Pekip. Er quengelte, weil ihm das Gequietsche und Gejammer der anderen Babys zu laut war. Er wollte nicht auf dem Bauch liegen. Wollte von Meike*, der Kursleiterin, nicht angesprochen oder gar angesehen werden. Wollte nicht mit den Dingen spielen, die ich ihm anbot. Kurz: Er weinte fast ununterbrochen.

„Also letzte Woche war Krumpfz echt anstrengend, das muss ich dir leider sagen!“, sagte mir prompt eine der Pekip-Mütter bei einer Zufallsbegegnung in der Stadt. Und Meike nahm mich in der Woche darauf zur Seite und wollte wissen, ob mit meinem Sohn alles in Ordnung sei. Ob wir eine schwierige Geburt gehabt hätten, Vielleicht habe er eine Blockade davon, müsse mal zum Osteopathen?

Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Krumpfz’ Start ins Leben war ja tatsächlich nicht einfach gewesen. Auf dem Heimweg zweifelte ich – und die Tränen flossen.

Zum Glück fing mich mein Mann zu Hause sofort auf. Zerstreute meine Sorgen. Und auch meine beste Freundin richtete mich am Telefon wieder auf. Als ich dann noch Kata, deren Sohn mit Krumpfz das Zimmer in der Kinderklinik geteilt hatte, von meinem Kummer schrieb und sie aus ihrer Pekip-Gruppe Ähnliches berichtete, kam mein Vertrauen in mich langsam wieder zurück. Zuletzt tilgte unser Kinderarzt ein paar Tage später Meikes Theorie von der traumatischen Geburt.

Seither bin ich gerne wieder allein. Vorgestern schob ich sieben Kilometer mit Krumpfz durch die noch immer stoppeligen Felder, anstatt zu Pekip zu gehen. Und mir fehlte nichts. Irgendwo über uns, im stählernden Frühlingshimmelblau kreiste einsam ein Bussard. Das gefiel mir viel besser als ein Nachmittag unter liebevollen Geiern.

*Die im wahren Leben – wie alle hier – anders heißen.

 

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