Ich komme ja aus einer Winke-Familie. Was das ist? Nun, den Begriff habe ich selbst erfunden. Er bezeichnet die Art und Weise, wie man sich in meiner Familie verabschiedet – nämlich durch exzessives Winken. Zumindest war das früher so, als wir noch mit drei Generationen unter einem Dach wohnten. Ich erinnere mich noch daran, wie ich mit meiner Mutter immer im Haustürrahmen stand, während meine Tante und mein Onkel nach einem Besuch in ihren dunklgrünen Nissan stiegen und fortfuhren. Ich war dann immer etwas traurig. Aber spätestens, wenn mein Onkel dann die Warnlichter anmachte und hupte, während er das Auto die Straße hinuntersteuerte und wir den beiden wie wild hinterherwinkten, war die Szene auch gleichzeitig so witzig, dass ich die Traurigkeit über den Abschied kurz vergaß.
Auch sonst wurde in meiner Familie immer viel gewunken: Wenn Opas Familie aus Brandenburg kam, stand zum Abschied unsere ganze Familie vor der Haustür und winkte, bis die Verwandtschaft mit ihrem Auto an der nächsten Kreuzung abbog. Wenn ich mit meinen Eltern in den Urlaub fuhr, standen meine Großeltern vor dem Haus und winkten uns mit besorgtem Blick hinterher – dabei fuhren wir doch nur nach Bayern und nicht ans andere Ende der Welt! Und auch als ich schließlich von zu Hause auszog, winkten mir meine Eltern tapfer hinterher, als ich in meinem voll beladenen Peugeot die Heimat verließ.
Umso erstaunlicher war es also, dass Krumpfz von diesem Winke-Gen so scheinbar gar nichts abbekommen hatte. Während andere Babys schon mit sieben Monaten zum Abschied fleißig winkten, zeigte sich Krumpfz bei Abschieden unbeeindruckt: Er ignorierte sie einfach. Weder wir Eltern, noch die Großeltern oder gar Freunde konnten von ihm eine Abschiedsgeste erwarten.
Später, als ich nach einem Jahr als Vollzeit-Mama wieder arbeiten ging, quittierte Krumpfz mein Fortgehen zunächst mit Weinen und herzzerreißenden Rufen nach „Mama“, während ich schlechten Gewissens durch das Treppenhaus davoneilte. Zwar gewöhnte er sich irgendwann an den Zustand, dass Mama morgens das Haus verließ – verabschieden wollte er sich aber immer noch nicht. Auch wenn mein Mann ihn morgens in der Krippe abgab, war aus Krumpfz kein „Tschüss“ herauszubekommen. Stattdessen ließ er meinen Mann einfach stehen.
Dafür bekam sein Freund Tom*, der sich, unbeirrt von Krumpfz‘ Ignoranz, nach jeder Begegnung fröhlich verabschiedete, irgendwann als Erster ein „Tschüss, Tom!“. Und auch bei mir begann sich Krumpfz manchmal und dann zaghaft zu verabschieden. So richtig warm wurde er mit der Situation aber nicht, das merkte man.
Doch als wir Eltern gerade beschlossen hatten, dass das Abschiednehmen einfach nicht Krumpfz‘ Ding war, und wir uns höflich bei jedermann für das Nichterwidern eines „Tschüss, Krumpfz!“ entschuldigten („Er hat’s nicht so mit Abschieden.“), entdeckte Krumpfz plötzlich das Winken für sich. Quasi über Nacht wurde aus dem eher mürrischen Abschiednehmer ein enthusiastischer Winker. Fortan wurden all unsere Gäste mit überschwänglichem Gefuchtel und einem „Tschüssi! Bye, bye“ von einem fröhlich lachenden Krumpfz‘ verabschiedet.
Gleichzeitig interessierte sich Krumpfz plötzlich für unsere verschiedenen Abschiedsformeln, die ich ihm eines Abends im Bett alle aufzählen musste. So fanden wir heraus, dass Opa Micha „Tschaui“ sagt, während Oma Marianne eher „Tschüssi“ verwendet, Papa wiederum „Bye, bye!“ benutzt und Mama „Tschüüühüüüs!“ ruft. Irgendwann, als wir alle Mitglieder unserer zugegebenermaßen kleinen Familie durchhatten, hatte Krumpfz noch immer nicht genug. „Was noch?“, fragte er und sah mich mit erwartungsvollen Augen an. Spontan fiel mir da nichts Besseres als „Arrivederci!“ ein und ich erklärte Krumpfz, dass die Menschen auf der anderen Seite der Berge sich so verabschiedeten.
Am nächsten Morgen hatte ich unseren abendlichen Exkurs ins Italienische schon längst wieder vergessen. Doch als ich mich von Krumpfz mit Winken und „Tschüüühüüüs!“ verabschiedete, schaute er mich plötzlich erwartungsvoll an: „Was noch?“ Ich dachte nach. Dann fiel es mir wieder ein: „Arrivederci!“ Krumpfz lachte, winkte und rief „Dätschi Mama!“. Und was soll ich sagen? Seither ist das wahrscheinlich furchtbar falsch ausgesprochene „Arrivederci!“ die Abschiedsformel, die Krumpfz immer auch noch von mir hören will. Ich fürchte, ich muss jetzt doch noch Italienisch lernen.
* Der im echten Leben anders heißt.