Nicht verstehen

Allgemein

Als mich meine amerikanische Gastschwester Marie* 2002 erstmals in meiner norddeutschen Heimat besuchte, runzelte sie oft die Stirn, wenn ich ihr versuchte, die deutsche Sprache näherzubringen. Was für mich total logisch erschien, war für sie ein verwirrendes System aus merkwürdig klingenden Lauten, scheinbar endlosen Substantivverbindungen und verwirrenden Satzstrukturen. Gut, ich machte es ihr auch wirklich nicht leicht: Mit Fragen zum grammatischen Geschlecht von Substantiven stellte ich sie vor schier unlösbare Aufgaben. Und mit Unsinnswörtern wie dem Klassiker des „Donaudampfschifffahrtskapitäns“ brachte ich sie zwar regelmäßig zum Lachen – aber wahrscheinlich auch an den Rand einer Sinnkrise, ob sie diese Sprache je wirklich lernen würde können (Spoiler: Sie konnte!). 

Jahre später, während meines Germanistik-Studiums, war ich dann selbst diejenige, die an der deutschen Sprache verzweifelte. Hatte ich im Grundstudium der Linguistik noch gut folgen können, wenn es um Verbzweit- und Verbletztpositionen im deutschen Satzbau ging, verlor ich im Hauptstudium komplett den Durchblick, wenn es an die Analyse von komplexen Sätzen ging. Zum Glück konnte ich mich im Examen um das Thema herumdrücken, so dass mein Wissen über die deutsche Syntax zwar locker für die Schule reicht, aber eben nicht weit darüber hinausgeht.

Dass Deutsch eine schwierige Sprache ist, merke ich jetzt wieder, wenn ich Krumpfz dabei beobachte, wie er die Sprache lernt. Er ist regelrecht hungrig nach Wörtern und saugt sie auf wie ein Schwamm. In Wimmelbüchern zeigt er auf jeden und alles und fordert uns Eltern dadurch auf, ihm die entsprechenden Begriffe zu nennen. Danach kennt er die Wörter und kann – wenn man ihn fragt – das damit Bezeichnete zeigen. Ich bin jedes Mal schwer beeindruckt, wie viele Wörter er schon in seinen Wortschatz aufgenommen hat: Zitronenpresse, Football, Nudelholz, Bobtail, Ballenpresse, Girlande, Schleife, Stofflöwe, Ritterburg, Radlader, Kürbis…

Was Krumpfz allerdings nicht versteht, ist ausgerecht das Wort „nicht“. „Wird einem Kind […] gesagt, es solle nicht an den Herd gehen, ist [das] kindliche Gehirn außerstande, das Wort ‚nicht’ zu verarbeiten. Es wird einfach weggefiltert. Übrig bleibt: ‚Geh Herd!‘, und das wird das Kind dann auch tun“, schreiben die Autorinnen meines Lieblingsratgebers „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn“. 

Das Problem ist: Wir Eltern verwenden ständig solche nicht-Sätze:

„Krumpfz, die Murmel wird nicht geworfen!“

„Geh’ nicht zur Treppe, das ist gefährlich!“

„Nicht die Lampe anfassen, die ist heiß!“

Solche Dinge kommen mir täglich – ach, was sag’ ich! stündlich! – über die Lippen. Denn meist sind die Situationen, in denen ich sie äußere, brenzlig und ich will nicht, dass etwas kaputt geht oder Krumpfz sich wehtut. Ich finde es bemerkenswert, dass mir dann im Affekt immer zuerst solche negierten Aussagen einfallen – sagt das nicht eine Menge über die deutsche Sprache (und uns Deutsche) aus? (Ha, schon wieder!)

Ich arbeite also seit Wochen daran, mir eine positive Sprachhaltung anzutrainieren:

„Krumpfz, bitte roll’ die Murmel.“

„Komm‘ von der Treppe weg, das ist gefährlich!“

„Halte Abstand zur Lampe, die ist heiß.“ 

Und nein, ich hätte im Vorhinein nie gedacht, dass ich mir als Mutter einmal über so etwas Gedanken machen würde! 

Leider werden meine Bemühungen um eine positive Sprache inzwischen von Krumpfz sabotiert. Seit er in der Kita ist, hat er nämlich ein – für den Alltag wahrscheinlich ziemlich praktisches – Wort gelernt:  „NEIN!“ Und dessen Wirkung testet er gerade sehr ausdauernd. 

„Krumpfz, darf ich dir deine Hose anziehen?“ – „NEIN!“

„Komm Krumpfz, wir gehen Wickeln…“ – „NEIN!“

„Möchtest du noch etwas Brot essen?“ – „NEIN!“

In den ersten Wochen seiner Nein-Phase ging das sogar so weit, dass Krumpfz „Nein“ gesagt hat, wenn er eigentlich „Ja“ sagen wollte.  

Zum Glück gibt es noch einen Ausweg aus diesem Dilemma: Mein mütterliches „DOCH!“, wenn er wirklich eine Jacke anziehen muss (weil es kalt ist) oder er eine neue Windel braucht (weil er eine olfaktorische Zumutung ist). Leider wird er auch dieses Wort bald kennen und können. Was ich dann mache, weiß ich noch nicht. Ich weiß nur, dass mir da auch keine weitere Linguistik-Vorlesung hätte helfen können.

PS: Wer alle „nicht“ in diesem Text richtig zählt, dem gebe ich bei nächster Gelegenheit einen Kaffee aus!

*Die eigentlich ganz anders heißt.

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