Stillleben

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Als Mutter eines Babys gewöhnt man sich ja an so einiges: das sich äquivalent zum griechischen Staatsdefizit verhaltende Schlafdefizit, Spaziergänge bei Winter und Wetter, Abende vorm Trash-TV statt im Theater – und Stillen an allen möglichen Plätzen. Inzwischen stehen neben einer katholischen Kirche IKEA, die Stadtbibliothek und der Rücksitz unseres Autos auf der Liste der Orte, an denen ich plötzliche Hungerattacken von Krumpfz gestillt habe.
Dabei bin ich grundsätzlich froh, wenn ich bei meinen Ausflügen mit Krumpfz irgendwo den Aufkleber für stillfreundliche Orte entdecke. Denn da weiß ich, dass ich keine irritierten Blicke ernte, wenn ich dort spontan Krumpfz’ Milchbar auspacke. Unsere liebste Pasticceria hat zum Beispiel so einen Sticker an der Tür. Gut, die schmalen Bänke in Hüfthöhe sind nicht optimal, um ein Baby und sich selbst in Stillposition zu bringen. Und genug Platz ist in dem italienischen Café für unseren Kinderwagen eigentlich auch nie. Aber immerhin gibt es dort einen guten Cappuccino und die besten Pasticcini weit und breit.
Und auch in anderen Läden unserer Wahlheimatstadt findet man den Sticker für Stillmütter. So war ich vor kurzem mit Krumpfz in einem Bio-Schuhladen. Dort hatte Krumpfz’ Cousine schöne Wollsocken für den Kleinen gefunden und uns zur Geburt geschenkt. Da die Socken nicht rutschen (was in etwa so wahrscheinlich ist wie ein Tag ohne Trump-Tweet), wollte ich für Nachschub sorgen. Krumpfz jedoch fand das sich zwischen mir und der Verkäuferin entspinnende Gespräch über Babyfußbekleidung total öde und begann herumzunörgeln. Die Verkäuferin, die mir mit ihrer eigenen mütterlichen Kompetenz zur Seite stehen wollte, deutete das – gewagte These! – als ein Zeichen für seinen Hunger: „Wir sind übrigens ein stillfreundliches Geschäft!“, sagte sie und deutete auf den Aufkleber an der Tür. Ich bedankte mich für den Hinweis, lehnte aber höflich ab – einmal, weil Krumpfz einfach nicht hungrig war, zum anderen, weil ich mir das Stillen zwischen Wollsocken und Biolatschen nicht so recht vorstellen konnte (zumal es keinen Stuhl gab).
Anderswo dagegen scheint man überhaupt nicht damit zu rechnen, dass je eine Mutter mit Kind den Weg dorthin findet. So waren wir neulich in der Landeshauptstadt, um für Krumpfz’ Papa eine neue Brille auszusuchen. Vorausschauend hatten wir gleich nach der Fahrt dorthin das Eltern-Café eines Kindermodengeschäfts angesteuert – allerdings fand Krumpfz die anderen, um ihn herum spielenden Kinder so unglaublich faszinierend, dass er darüber meine Brust und damit seinen Hunger komplett vergaß. Also zogen wir weiter zum Optiker.
Man muss dazu sagen: Der Optiker ist nicht irgendein Brillenhändler. Er ist THE place to be für alle hippen Landeshauptstädter, die aus modischen oder tatsächlich medizinischen Gründen eine Brille brauchen. Hier gibt es Modelle aus dem 3D-Drucker oder aus Büffelhorn und die Auslagen sind in einem Apple-eskem Weiß gehalten, das kein Staubkorn verzeiht. Kurz: Hier erwartet man nicht unbedingt eine junge Familie mit Baby.
Der junge Verkäufer, der uns nur Millisekunden nach dem Eintreten sofort seine Dienste anbot, war dementsprechend schon mit der Frage überfordert, wo wir denn unseren Kinderwagen abstellen könnten. Und als ich ihn nach einer Möglichkeit zum Stillen fragte, brachte ich ihn offensichtlich komplett aus dem Konzept. Dabei wusste ich, dass es in der ersten Etage für Kunden mit fester Kaufabsicht ein großes weißes Ledersofa sowie eine Espresso-Bar gab – für mich der optimale Ort zum Stillen. Doch stattdessen führte mich der Verkäufer nach kurzem und sichtlich angestrengtem Überlegen in den hintersten Raum des Ladens, der aussah wie das Behandlungszimmer eines Augenarztes. „Hier machen wir eigentlich Sehtests – aber in der nächsten Stunde brauchen wir den Raum wahrscheinlich nicht. Hier könnten Sie stillen“, sagte er zu mir und wies auf den weißen Hochlehnenstuhl mit Sehtestbrillenarm. Ich war perplex, bedanke mich aber artig und vertagte das Stillen innerlich auf später.
Da mein Mann tatsächlich eine Brille fand, zog sich der Besuch beim hippen Optiker so sehr in die Länge, dass sowohl Krumpfz als auch ich anschließend nur noch eins hatten: Hunger. Also wechselten wir in den nahegelegenen schwäbischen Imbiss, den wir früher – vor unserer Zeit mit Krumpfz – schon immer aufgesucht hatten, wenn uns nach Linsen mit Spätzle gelüstete. Nur war mir der Laden bis dahin nie so eng erschienen wie in dem Moment, als wir erstmals versuchten, unseren Kinderwagen zu einem freien Tisch zu manövrieren. Dieser stand allerdings auf einer Empore, so dass wir den Wagen dort hinaufbugsieren mussten. Eine Kellnerin kam und musterte uns mit zusammengekniffenen Augen. „Können wir den Wagen dorthin stellen?“, fragte mein Mann. „Ja, aber nur, wenn Sie die Bremse anziehen!“, gab sie kurz zurück, als wären wir beim Verkehrssicherheitstraining. Artig nickten wir.
Tatsächlich bekamen dann sowohl Krumpfz als auch ich etwas zu essen. Ersteres schien nur von einem Elternpaar am Nebentisch als völlig normal angesehen zu werden – der Rest der Gäste betrachtete uns dagegen, als wären wir ein seltenes Naturschauspiel. So unangenehm war mir nicht mal mein Notstillen in der katholischen Kirche gewesen! Schnell schlangen wir unsere Spätzle herunter, dann verließen wir (auch weil Krumpfz inzwischen müde und deshalb ungehalten wurde) das Restaurant. Und ich schwor mir noch im Hinausgehen, nächstes Mal dann doch lieber zwischen Wollsocken zu stillen.

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