Während der Feiertage haben wir mal wieder unsere Vorrats- und Rumpelkammer nach Alkohol durchforstet.* Dabei tauchte eine Flasche guten Pale Ales meiner schottischen Lieblingsbrauerei auf. Sie hatte dort geduldig seit dem letzten Urlaub auf der britischen Insel auf mich gewartet. Freudig nahm ich die 660-Milliliter-Flasche hoch – und erblickte das Haltbarkeitsdatum: 21.01.2018. Ich seufzte und brachte die Flasche meinem Mann. „Die darfst du wohl alleine trinken“, sagte ich wehmütig und streckte sie ihm entgegen. Denn gerade wird Krumpfz noch voll von mir gestillt und die Formel zur Berechnung des Promillewertes meines Blutes (unter Berücksichtigung von Menge, Dauer und Zeitpunkt des Konsums, meines Körpergewichts und meiner Körpergröße) ist so kompliziert, dass ich lieber ganz auf Alkohol verzichte.
Es ist einer dieser Fälle, in der Theorie und Praxis deutlich auseinanderklaffen. In der Theorie wollte ich das süffige Gesöff nach meiner Schwangerschaft trinken. Dafür hatte ich es gekauft. Mir schien das Mindesthaltbarkeitsdatum dabei absolut realistisch und machbar. Dass ich mein Baby diesen Januar noch komplett mit Muttermilch ernähren würde, kam mir dabei nicht in den Sinn. Zu fixiert war ich auf das Ende meiner Schwangerschaft. Danach würde ja schließlich alles so sein wie vorher – nur eben mit Baby.
In der Theorie hatte ich mir außerdem fest vorgenommen, während meiner Elternzeit Italienisch zu lernen. Schließlich – davon war ich fest überzeugt – bräuchte ich in der Zeit ohne Job etwas, was mich geistig (heraus-)fordert. Vor meinem inneren Auge stellte ich mir vor, wie ich mit Krumpfz im Schlepptau regelmäßig in der vhs um die Ecke sitzen und italienische Konversationsfloskeln lernen würde. In der Praxis brüte ich – wenn ich abends nicht beim Ins-Bett-Bringen neben Krumpfz einschlafe – lieber über den früher von mir verhassten Elternratgebern und lerne dabei, wie Kinder kooperieren, warum Babys nachts so oft wach werden und wann Naturvölker abstillen.
In der Theorie hatte ich während meiner Schwangerschaft vollmundig behauptet, „Pekip und diesen ganzen Scheiß“ nicht zu brauchen. Keinen einzigen Kurs besuchen zu wollen. In der Praxis bin ich seit dem Rückbildungskurs froh, wenn ich mit Krumpfz einmal die Woche unter andere Mütter komme. Deshalb habe ich mich nach dem Babymassage- jetzt auch für Pekip-Kurs angemeldet und warte ungeduldig, dass dieser endlich losgeht.
In der Theorie hatte mir mein Mann zum Geburtstag Tickets für einen Gig von London Grammar geschenkt. Unsere Annahme war da noch, dass wir zusammen zum Konzert gehen und Krumpfz’ Großeltern derweil draußen das Kind im Kinderwagen schieben und bespaßen würden. In der Praxis ging mein Mann zusammen mit einem Freund zum Konzert und ich lauschte erschöpft auf dem Sofa dem Rauschen des Babyphones.
In der Theorie hatten mein Mann und ich große Pläne für seine Elternzeit. Ein Cottage wollten wir mieten. Im hintersten Winkel von Schottland. Und einen Monat wie Eremiten leben. In der Praxis kommen wir gerade von der ersten Nacht bei den Großeltern zurück und fragen uns seither, wie wir in das mit Krumpfz’ Kram vollgepackte Auto überhaupt noch einen Koffer für uns unterbringen sollen. Außerdem setzt mein besorgtes Mutterherz bei dem Gedanken, weit weg von unserem Kinderarzt in der schottischen Einöde zu weilen, für eine Sekunde der Panik aus.
Das klingt alles ziemlich deprimierend. Ist es aber nicht. Denn in der Theorie war ich auch immer der festen Überzeugung, dass ich nicht zwingend ein eigenes Kind bräuchte, um ein erfülltes Leben zu führen. Damit hatte ich bestimmt Recht. Aber in der Praxis habe ich noch nie jemanden so schnell und so bedingungslos in mein Herz geschlossen wie Krumpfz. Da kommt jede Theorie an ihre Grenzen.
*Es ist nämlich so, dass wir immer mal wieder guten Wein oder ausgefallene Biersorten kaufen und diese dann für besondere Anlässe in der Kammer aufbewahren. Da dort aber auch der Staubsauger, das Bügelbrett und andere Haushaltsfoltergeräte stehen, wird der gute Alkohol immer weiter in die hinterste und dunkelste Ecke der Kammer verdrängt. Und deshalb tauchen wir von Zeit zu Zeit mal dorthin ab, damit nichts verkommt.