Ich gebe es zu: Ich bin U-Boot-Protestantin. Nur einmal im Jahr tauche ich in meiner Gemeinde auf – und das ist Heiligabend. Für mich gehört das einfach zu Weihnachten dazu: die Geschichte von Jesu Geburt hören, Kindern beim Krippenspiel zusehen und „O du fröhliche“ singen. Es gab bisher kein Jahr, an dem ich Heiligabend nicht in eine Kirche gegangen bin auf der Suche nach Besinnlichkeit, dem Gefühl von Weihnachten und manchmal auch dem Sinn des Lebens.
Und so wollte ich auch dieses Jahr nicht auf den weihnachtlichen Kirchgang verzichten – im Gegensatz zu meinem Mann, für den der Gottesdienst zum Fest nicht zwingend dazugehört. Aber mit meinem schönsten Augenaufschlag und schlagenden Argumenten („Das habe ich immer so gemacht!“) konnte ich ihn schließlich überzeugen. Wir entschieden uns für den ersten Gottesdienst mit Krippenspiel in der evangelischen Kirche – in der Hoffnung, dass Krumpfz unter all den anderen schreienden, hibbeligen und gelangweilten Kindern nicht weiter auffallen würde.
Also band ich Krumpfz ins Tuch und wir machten uns auf den Weg. Vor den Gottesdienst schalteten wir einen kleinen Spaziergang, damit der (zu diesem Zeitpunkt bereits frisch gebadete und mit Geschenken überhäufte) Krumpfz einschlafen konnte. Als wir dann die Kirche betraten, war der Kleine tatsächlich müde weggenickert.
Das änderte sich schlagartig mit dem Beginn des Gottesdienstes. Die kleine Orgel links vom Altar setzte mit einer solchen tonalen Wucht ein, dass selbst mein Mann und ich kurz zusammenzuckten. Und Krumpfz erst! Mit den ersten Orgelakkorden riss er die Augen weit auf und schaute sich um. Verständnislos sah er erst seinen Papa an, dann zu mir hinauf. Als das den Krach weder erklärte noch beendete, klappte seine Unterlippe gefährlich nach unten und begann zu zittern. Ich wusste schon, was nun kommen würde und tatsächlich: Sekunden später brach Krumpfz in lautes Weinen aus. Das sehr ambitionierte Vorspiel des offensichtlich von der Vielzahl der Gottesdienstbesucher extra motivierten Kantors war dem Kleinen einfach zu laut – und vielleicht auch etwas unheimlich.
Da wir uns vorsorglich eh in der letzten Reihe positioniert hatten, verschwand ich kurzerhand mit Krumpfz in den Vorraum des Kirchenschiffs und harrte dort aus, bis die Orgel verstummt war. Danach ging ich in die Kirche zurück und versuchte, dem Gottesdienst zu folgen. Leider standen – damit den vielen Kindern nicht langweilig wurde – sehr viele Lieder auf dem Programm. Also pendelte ich zwischen Kirchenschiff und Flur hin und her. Immerhin konnte ich als provisorische Empfangsdame so noch einer verzweifelten Mutter, die mit ihren Zwillingsmädchen hereinkam, mit zwei Taschentüchern für die laufenden Nasen ihrer Kinder aushelfen. Nach 20 Minuten kam auch mein Mann zu uns in den Flur und schlug (sicher nicht ganz uneigennützig) vor, mit Krumpfz doch einfach wieder nach Hause zu gehen. Und das taten wir dann auch. Das war also unser erster Kirchgang mit Krumpfz. Da ahnte ich noch nicht, dass uns der nächste Tag gleich wieder in einer Kirche führen würde…
Am ersten Weihnachtsfeiertag kam die Familie von Krumpfz’ Papa zum Weihnachtsessen vorbei. Anschließend wollten wir zu siebeneinhalbt einen Spaziergang durch die fast frühlingshaften Sonnenstrahlen machen. Also ab mit Krumpfz in den Kinderwagen und los! Erst sollte es nur eine kleine Runde durch die Stadt werden, dann aber war die Mehrheit für einen Abstecher ins nahegelegene Tal, vorbei an Schrebergärten bis zu einer katholischen Wallfahrtskirche und zurück. Ich gab noch zu bedenken, dass auf dem Weg zur Kirche etliche Stufen zu bewältigen seien, aber Krumpfz’ Papa gab sich optimistisch, dass man den Kinderwagen mit vereinten Kräften schon dort hinaufbekommen würde…
Als wir allerdings vor der Treppe mit ihren 60 Stufen standen, packte Krumpfz’ Papa die Humboldt’sche Abenteuerlust, die uns schon in so manchem Urlaub auf Abwege geführt hatte, und er verkündete, dass man ja auch einfach mal gucken könnte, ob der Weg geradeaus auch irgendwann zur Kirche führen würde. So weit könne das ja nicht sein! Optimistisch schritt mein Mann voran und wir folgten ihm.
Tatsächlich führte uns der Weg zu besagter Wallfahrtskirche. Allerdings machte er eine ausladende, gut drei Kilometer lange Kurve, so dass sich der Spaziergang deutlich verlängerte. Die logische Folge: Am Scheitelpunkt des Weges wachte der bis dahin friedlich schlummernde Krumpfz auf und bekam schrecklichen Hunger. Zunächst konnten wir ihn noch durch abwechselndes Tragen bei Laune halten, aber kurz vor der Wallfahrtskirche war sein Hungergefühl nicht mehr wegzutragen und Krumpfz begann richtig ärgerlich zu werden und laut zu zetern.
Da der Weg von der Kirche bis nach Hause nochmals über eine halbe Stunde dauern würde und ich wenig Lust auf ein dauerschreiendes Kind hatte, entschloss ich mich kurzerhand, Krumpfz in der Kirche zu stillen, obwohl ich nicht darauf eingestellt war (und dementsprechend keinen meiner diskreten Stillpullover anhatte). Meine Hoffnung, ungesehen in einer Kirchenbank die Brust geben zu können, verflüchtigte sich jedoch, als ich die Menschenmassen sah, die in die Kirche strömten. Der Grund: Eine große hölzerne Krippe war der Anlaufpunkt für Groß und Klein an diesem ersten Weihnachtsfeiertag.
Kurz wog ich zwischen zwei Übeln ab: ein schreiendes Baby an den Menschenmassen vorbei nach Hause zu schieben und dabei vorwurfsvollen Blicken ausgesetzt zu sein oder halbnackt in einer katholischen Kirche zu sitzen. Ich entschied mich für die zweite Option und setzte mich mit Krumpfz in die hinterste Kirchenbank. Während ich meinen Pullover hochzog und mich so vom Bauchnabel bis zur Brust freimachte, schirmte mich mein Mann mit meiner Winterjacke notdürftig ab. Als ich Krumpfz stillte, sah ich den Menschen zu, die an uns vorbei zur Krippe hin strebten. Kurz hatte ich die Befürchtung, dass irgendwer etwas dagegen haben könnte, dass ich als U-Boot-Protestantin einfach so meine Brust an diesem geweihten (und dazu noch katholischen!) Ort entblößte. Aber dann dachte ich an das traute, hochheilige Paar und den kleinen Jesus in der Krippe und fand tatsächlich, dass wir den dreien in diesem Moment gar nicht so unähnlich waren. Und dann musste ich schmunzeln: Krumpfz hatte seinen kirchgangfaulen Vater und mich tatsächlich noch einmal an Weihnachten in die Kirche gekriegt.
Ein Gedanke zu “Take me to church”