Echo

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Es ist halb fünf am Morgen und ich kann nicht mehr schlafen. Gerade hat Krumpfz seine dritte Stillmahlzeit der Nacht bekommen und liegt – hin und wieder zufrieden krumpfzend– in seinem Beistellbettchen, das an unser Bett angedockt ist. Wie immer habe ich mich nach dem Stillen neben ihn gekuschelt, meinen Finger in sein linkes Händchen gelegt und wollte wieder einschlafen. Geht nicht. Ich habe es eine halbe Stunde versucht. Ich bin wach. Also sitze ich jetzt mit dem Rücken an die warme Heizung gelehnt mit dem Laptop auf dem Schoß im Badezimmer, dem momentan einzigen geheizten Raum in unserer Wohnung. Über mir trocknen Krumpfz’ Klamotten von gestern, die er mit einem ordentlichen Schwall Milch dekoriert hatte und die ich mit einer Mischung aus Rei in der Tube und Gallseife noch vor dem Vergilbungstod retten konnte.

Normalerweise gehört Schlafen zu meinen Kernkompetenzen. Ich kann eigentlich immer, überall und viel schlafen. Aber heute Morgen treibt mich der Gedanke um, dass wir in wenigen Stunden zum Kinderarzt müssen – zum Impfen. Der Gedanke daran, dass Krumpfz zwei (wahrscheinlich viel zu große!) Nadeln in seine beiden Oberschenkel bekommt, anschließend wahrscheinlich weinen wird und danach vielleicht noch Schmerzen oder Fieber bekommt, treibt mich um. Nicht, weil ich so ein Sensibelchen bin – durch solche Impfungen muss man durch. Sondern weil dieses Gefühl, dass es meinem Kleinen nicht gut geht, schon gut kenne.

Denn Krumpfz ist ein Frühchen. Kein dramatisch frühes Frühchen, aber immer noch ein Baby, das viereinhalb Wochen eher auf die Welt kam als geplant. Es lief also alles ganz anders, als ich es mir so oft vorgestellt hatte. Und die Erinnerungen daran kommen als Echo gerade zurück.

In der Nacht zu Krumpfz’ Geburtstag, als das Wetter von schwül-warm zu dauerregenkalt umschwang, musste ich – wie so oft in der Endphase meiner Schwangerschaft – auf Toilette. Doch kaum war ich aus dem Bett aufgestanden, stand ich plötzlich mit nasser Unterhose da – die Fruchtblase war geplatzt! Ich werde diesen Moment, in dem ich im sofortigen Wissen über den zu frühen Beginn dieser finalen Phase meiner Schwangerschaft meinen Mann wecke, nie vergessen. Ich zitterte am ganzen Körper. Vor Aufregung. Vor Angst.

Wir packten hektisch die Kliniktasche (die von mir vorbereitete Liste dafür fanden wir in der Aufregung natürlich nicht) und dann ging es mit dem Krankenwagen in die nahegelegene Frauenklinik. Im Kreißsaal empfing mich eine Hebamme, die sich Zeit für meine Angst und Sorgen nahm. Behutsam brachte sie mir und meinem Mann bei, dass Krumpfz als spätes Frühchen auf die Welt kommen würde und nach der Geburt zur Überwachung auf die Neonatologie I kommen würde. Ich weinte, weil ich mich noch nicht von Krumpfz trennen wollte und weil es jetzt alles viel zu schnell ging. Ich weiß noch, wie ich meine Hand auf meinen noch runden Bauch legte und die Tritte meines Kleinen, den wir bis dahin immer Krümel genannt hatten, noch einmal ganz bewusst in mich aufsog. Innerlich nahm ich in diesem Moment Abschied von dieser engen Verbundenheit mit meinem Sohn.

Es folgte ein langer Tag des Wartens. Die Wehen, die ich beim Eintreffen in der Klinik ganz leicht verspürt hatte, waren weg und so wurde ich morgens auf die normale Station verlegt. Den ganzen Tag lief ich Rillen in den Fußboden des Flurs vor meinem Zimmer – ohne, dass sich etwas tat. Abends dann leitete die zuständige Hebamme die Geburt bei mir ein. Danach ging alles – in meiner Erinnerung zumindest – rasend schnell: Die Wehen wurden rasch stärker und es ging zurück in den Kreißsaal. Mein Mann wich die ganze Zeit nicht von meiner Seite, während ich zunehmend in eine Art Trance verfiel und eine Wehe nach der anderen veratmete.

Zweieinhalb Stunden später war Krumpfz da. Er hatte sich tapfer durch mein Becken geschraubt und in die Welt pressen lassen. Der Kleine tat einen kräftigen Schrei, wurde von seinem Papa abgenabelt und neben mich gelegt. Leider hatte ich meine Brille im Vorfeld irgendwo abgelegt und sah nur ganz verschwommen das winzige Bündel Mensch neben mir.

Ehe ich mein Glück begreifen konnte, wurde mir Krumpfz jedoch plötzlich weggenommen. Erst da realisierte ich, dass der Kreißsaal voller Menschen war. Neben mir tauchte ein Kinderarzt auf, der mir erklärte, dass Krumpfz Probleme mit dem Atmen habe und dass man ihn daher jetzt an die Beatmung anschließen müsse. Ich war viel zu benommen, um das wirklich zu verstehen und blickte nur über meine rechte Schulter, wo Krumpfz von Kinderkrankenschwestern umringt und versorgt wurde. Mein Mann stand daneben und guckte besorgt. Dann wurde Krumpfz in einem Wärmebettchen aus dem Kreißsaal geschoben.

Nachdem ich schließlich 24 Stunden nach unserem nächtlichen Aufbruch in die Klinik wieder auf meiner Station war, ließ ich mir einen Rollstuhl bringen und folgte Krumpfz mit meinem Mann. Als wir in das dunkle Zimmer mit den blinkenden Monitoren fuhren und ich zum ersten Mal meinen kleinen Sohn sah, war ich total erschöpft, aber vor allem eins: sehr glücklich. Trotz der Schläuche, die durch seine Nase Sauerstoff in seinen kleinen Körper pumpten. Trotz der Kanüle, die in seiner winzigen Hand steckte. Dort lag – verschrumpelt, krebsrot und schlafend – mein Sohn. Erschöpft strich ich leicht mit meiner Hand über seinen Rücken, um ihm zu zeigen, dass ich da war. Dass wir es geschafft hatten.

Heute kann ich mir dieses erste Bild von Krumpfz, verborgen unter Kabeln, Schläuchen, Mützchen und Decke, nur mit schwerem Herzen anschauen. Zu sehr ruft es die Sorge und Angst auf, die mich in den nächsten Tagen umtrieb.

Unvergessen bleibt der Augenblick, als ich Krumpfz zum ersten Mal auf meine Brust nehmen konnte. Das war am zweiten Tag nach seiner Geburt und er hatte in der Nacht die Beamtungsschläuche aus der Nase bekommen. In einem Gartenstuhl bekam ich Krumpfz unter einem Krankenschwesternkittel, den ich vorher gegen mein T-Shirt getauscht hatte, auf den nackten Oberkörper. Der kleine Bolle ganz nah bei mir – ich war sehr gerührt und glücklich zugleich.

Und ich erinnere mich noch an meinen Herzschmerz, als zwei Tage später eine Mutter mit ihrer frisch entbundenen Tochter zu mir ins Zimmer gelegt wurde. Ich konnte die beide nicht ertragen und floh spät am Abend auf die Neo I. Dort pumpte ich unter Tränen im Stillzimmer Milch für meinen Krumpfz ab, bevor ich ihn wickeln und füttern ging. Beim Vorbereiten des Wickeltisches flossen die Tränen ungehindert weiter. Die diensthabende Schwester sah mich und brachte mir ein Taschentuch: „Das sind die Hormone, die Hormone. Alles ganz normal!“

Nach einer Woche und einem Tag wurden wir schließlich nach Hause entlassen. „Sie haben ein gesundes Kind“, sagte der Kinderarzt beim Abschlussgespräch. Wie erleichtert wir waren! Und wie aufgeregt, als wir mit Krumpfz nach Hause fuhren! Dieses Gefühl werde ich nie vergessen.

Inzwischen haben wir schon etwas Zeit zwischen die Woche in der Klinik und uns gebracht. Und mit jedem Tag, den wir mit Krumpfz zu Hause verbringen, verbleichen die Sorgen und Ängste aus der Anfangszeit. Abgelöst werden sie nach und nach durch ganz normale Elternsorgen – so wie die, die mich gerade nachts, an die warme Heizung im Badezimmer gelehnt um den Schlaf bringen.

Was bleibt, ist ein Echo, das immer schwächer wird.

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